Stimmenvielfalt II: Die Rolle
der Stimmen in The Halfmoon Files

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Der Filmemacher Philip Scheffner setzt in The Halfmoon Files fantastische, widersprüchliche und paradoxe Geschichten, subjektive Erinnerungen, Anachronismen und Nebensächlichkeiten ins Bild. Er widersetzt sich nicht nur der dominanten Metaerzählung, sondern gibt auch den jeweiligen Zeitzeug∼innen eine Stimme.


Die Rolle der Stimmen in THE HALFMOON FILES

THF_Poster
Plakat zur Lesung: Schwirrende Stimmen, spukende Geschichten

Wovon sich Philip Scheffners Umgang mit Stimmen deutlich unterscheidet, sind die simplen Aneinanderreihungen von Kommentaren sprechender Menschen, die als talking heads die Medienlandschaft eroberten und »uns mit Nachrichten, Blödeleien und flotten Sprüchen an sich fesseln wollen« (Schlumpf 1995: S. 114). In dieser Fülle von oftmals banalen Informationen über menschliche Alltagserfahrungen geht der Sinn für die Möglichkeiten und die Weiterentwicklung der dokumentarischen Filmsprache verloren. Das ursprünglich emanzipatorische Verfahren sprechender Menschen im Dokumentarfilm, die durch den Direktton von den Kommentatoren befreit wurden, »[…] verkehrt sich in sein Gegenteil, in dem die medial erzeugte Verwirrung durch Überfütterung […] verantwortliches Handeln verunmöglicht. So ist der sprechende Mensch im Dokumentarfilm auch zum Ballast und Ärgernis geworden« (ebd.). Ein reflektiertes und präzises storytelling hingegen bietet vielfältige Möglichkeiten, die Filmerzählung zu konstruieren und voranzutreiben sowie die verschiedenen narrativen Elemente zu verbinden bzw. zwischen diesen hin und herzuspringen.

Im Folgenden beziehe ich mich auf die Tonaufnahme, mit der THF beginnt. Hier gebraucht Bhawan Singh diese Redewendung: »Sehr geehrte Herrschaften. So gut es meine Erinnerung zulässt, werde ich berichten, was sich die Alten erzählen […]« (THF: 00:01:55–00:02:20). Wie die Filmwissenschaftlerin Tanja Seider bemerkt, ist dieses rhetorische Mittel charakteristisch für eine traditionelle mündliche Erzählweise (vgl. 2013: S. 133). Der Erzähler behauptet hier seine Kompetenz der Weitergabe dadurch erhalten zu haben, dass er selbst einst der Hörer dieser Erzählung war. Wir, als gegenwärtige Zuhörer/innen dieser Erzählung, erhalten durch unser Zuhören potenziell die gleiche Kompetenz. Dies führt zu einer Überlagerung von Hörer- und Sprecherstatus, bzw. ist die Vollständigkeit der Artikulation oder des Sprechaktes erst durch das Sprechen und Zuhören gegeben. Entsprechend Lyotards Modell der Sprachspiele werden durch volkstümliche Erzählungen auch Regeln überliefert, welche die Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft aufzeigen: Nämlich was »[…] gesagt werden muss, um gehört zu werden, als auch, was gehört werden muss, um sprechen zu können, um zum Gegenstand einer Erzählung werden zu können« (Lyotard 1993: S. 71). In diesem Sinne bildet sich eine Gemeinschaft aus dem, was in ihr erzählt und gehört wird (vgl. ebd.: S. 74 f.).

Ein interessanter Aspekt der Erzählung Bhawan Singhs ist ihre Form, die einem Rhythmus gehorcht und damit einer rituellen Erzählweise entspricht. Die Stimme singt ein Gedicht: »Diese Welt ist ein trügerischer Traum, gespiegelt im Wasser des Flusses […]« (THF: 00:01:28–00:01:55). Philip Scheffner erzählt im Interview, dass er Bhawan Singh als einen alternativen Erzähler entwickelt hat, »[…] der nicht wie ich einen dokumentarischen Charakter erhält, sondern Fiction-Qualität bekommt. Der Sound soll das unterstützen. Im Abspann ergeben der Pegelton und das Knacken einen kleinen Beat« (Scheffner 2016: S. 85). Auch griechische Epen wurden bekanntlich als Gesänge überliefert, sie sind die »[…] akustische Urform der Literatur, die man heute als Oral Poetry oder Oral Tradition bezeichnet« (Schmölders 2012: S. 125). Wie die Kulturwissenschaftlerin Claudia Schmölders anhand eines Beispiels aus der Feldforschung erwähnt, zeichnete der amerikanische Philologe und Oralitätsforscher Milman Parry in den 1930er Jahren epische Nationalgesänge von Jugoslaw/innen auf Tonband auf. Bei diesen Gesängen soll es sich um stundenlange Darbietungen handeln. Auf die Frage, wie die Sänger/innen ihre Texte im Gedächtnis behalten konnten, erwidert Parry, »mithilfe der formelhaften Organisation der Dichtung […] – durch Wortwiederholungen, stehende Redewendungen, rhythmische Gliederungen« (Schmölders 2012: S. 126). Auch Homer hat über Methoden der Speicherung verfügt, »[…] und diese Methoden [sind] eben durch die Jahrhunderte gleich geblieben und keineswegs die Leistung eines einzelnen Individuums« (ebd.). Die Gemeinschaft findet das Material ihres sozialen Bandes somit nicht nur in der Bedeutung ihrer Erzählungen, sondern auch im Akt des Vortragens und Zuhörens (vgl. Lyotard 1993: S. 74).

Die Stimme Bhawan Singhs ist in das koloniale Dispositiv der Stimmaufzeichnungen des ›Halbmondlagers‹ eingebettet. Britta Lange geht davon aus, »[…] dass die Aufnahmen aus einem bestimmten wissenschaftlichen System heraus entstanden, also einer Kombination aus Technik, Methodik und Ansprüchen/Setzungen/Kategorien« (2010b: S. 4), wodurch die Gefangenen selbst als Sprecher entrechtet wurden. Die ›Wissenschaftler‹ wählten die zu sprechenden Texte aus und ließen die Soldaten in den Phonografentrichter sprechen. Alle Abweichungen vom vereinbarten Text wurden zusätzlich in einem Protokoll notiert, um den methodisch-wissenschaftlichen Anspruch zu untermauern, unter dem die Internierten zu Studienobjekten gemacht wurden (vgl. THF: 01:08:00– 01:09:10; Lange 2010b: S. 2 ff.). Da die beteiligten Wissenschaftler nicht an den persönlichen Geschichten der Gefangenen interessiert waren, wurden die Insassen gewissermaßen sprechend zum Schweigen gebracht. Dialogisches Sprechen wurde unterbunden und es hörten nur mehr die Maschinen zu. Den damaligen technischen Bedingungen geschuldet, wurden die Aufnahmen auch nach der Aufzeichnung vor Ort nicht angehört, um die Qualität der Matrize nicht unnötig zu gefährden und eine optimale Vorlage für die Vervielfältigung zu erhalten (vgl. Lange 2010b: S. 4). Dadurch dass das Sprachspiel deutlich einseitig ist, und letztlich nur die Regeln der ›Wissenschaftler‹ gelten, kommt es zum Terror im Sinne Lyotards (vgl. Lyotard 1993. S. 136). Er versteht darunter die »Eliminierung eines Mitspielers aus dem Sprachspiel« (ebd.: S. 184) bzw. deren Androhung. Der Spieler »[…] wird schweigen oder seine Zustimmung geben, nicht weil er (spielerisch) widerlegt, sondern weil er bedroht wurde, des Spielens beraubt zu werden […]« (ebd.).

Nicht nur die inhaftierten Kolonialsoldaten waren mit diesem technischen Dispositiv der Stimmaufzeichnung konfrontiert, sondern auch der deutsche Kaiser Wilhelm II. Seine Rede »An das deutsche Volk«, die er bei Kriegsbeginn im August 1914 hielt, wird üblicherweise mit einer Fotografie zusammengebracht, die den Kaiser auf dem Balkon des Berliner Stadtschlosses zeigt. Obwohl auf dieser Fotografie kein Mikrofon zu sehen ist, existiert eine historische Aufnahme von dieser Rede (THF: 00:14:01-00:14:41). Diese erweist sich jedoch als re-enactment und wurde ebenfalls von Wilhelm Doegen, Leiter der Preußischen Phonographischen Kommission, am 10. Januar 1918 im Schloss Bellevue in Berlin aufgezeichnet (vgl. THF: 00:14:49-00:14:52), »[…] dreieinhalb Jahre nach der Originalrede, als sich die militärische Niederlage des Deutschen Reiches bereits deutlich abzeichnete« (Lange 2010a: S. 6). Im Film wird dieser Aufnahmeprozess in unterschiedlichen Entwicklungsstadien hörbar gemacht, in denen »[…] Wilhelm Doegen und der deutsche Kaiser versuchen, den richtigen Tonfall zu finden« (THF: 00:14:54-00:15:50). Tanja Seider bemerkt dazu: »Thus, the grandeur and authority of the emperor’s speech is deconstructed by exposing the technical process ›behind the scenes‹« (2013: S. 145). Durch die Offenlegung des Aufnahmeprozesses driftet diese in der allgemeinen Wahrnehmung als ›historisch‹ beschriebene Rede ins Absurde ab. Als der Kaiser die Stimmprobe anhörte, sagte er begeistert: »Also nun wird’s ernst« (THF: 00:15:31) – ihm wurde der paradoxe Umstand klar, dass die Worte, die er während der Aufnahme sprach, als diejenigen gelten werden, die er dreieinhalb Jahre zuvor gesagt hatte.

Der streng normierte Ablauf der ›wissenschaftlichen‹ Datenerhebung war anfällig für Störungen aller Art (vgl. THF 01:09:24) und der Widerstand einzelner Kolonialsoldaten legt ihre eigentümlich lächerliche Brüchigkeit offen: »[…] Ich bin Kriegsgefangener in Deutschland im Jahr 1914. Ich lebe hier ganz gut. Der deutsche Kaiser kümmert sich sehr gut um mich. Heil! Heil! Heil! Hahahahaha Hahahahaha Hahahahaha« (THF: 01:10:42-01:11:00). Diese Aufnahme von Chote Singh ist wegen ihrer humoristischen Qualität spannend, vor allem weil die Autorschaft, also das Sprechen mit selbst gewählten Worten, im Phonogrammarchiv eigentlich »[…] nur den Stimmporträts berühmter Persönlichkeiten […]« vorbehalten war (Lange 2010b: S. 8). Er nennt nicht nur seinen Namen, sondern bezieht sich auch auf die tatsächliche Situation in Haft und lacht in Bezug auf den deutschen Kaiser und damit möglicherweise auch über das damalige politische Programm des Deutschen Reiches, die Kolonialsoldaten an der Seite der Deutschen Armee im Kampf gegen die britischen Kolonialmächte einzusetzen (vgl. Lange 2008: S. 23).                                                    

Der Künstler und Schriftsteller Brandon LaBelle, der sich in Lexicon of the Mouth, Poetics and Politics of Voice and the Oral Imaginary u.a. mit dem Lachen als einem körperlichen Moment beschäftigt, schreibt: »Laughter dramatically moves the body« (2014: S. 115). Beim Lachen wird vor allem die Materialität der Stimme erfahrbar, die als Spur, »[…] als unverwechselbares, körperliches Kennzeichen des Menschen, als Index eines ›gelebt habenden‹ Individuums« (Lange 2010b: S. 7) hinterlassen wird. Wer ist der Sprecher und warum lacht er? Befindet Chote Singh den Umstand der Aufnahme für lächerlich oder macht er einen Witz? Vielleicht lacht er über das Unausgesprochene, über die Tragödie der Erniedrigung innerhalb des Lagers. Wie nahe steht das Lachen dem Weinen? »Is not the laugh a paralinguistic gesture, an extremely rich mouth movement, whose meaning is always in question?« (La Belle 2014: S. 124).

Da das Lachen auf die Rede folgt, wird sie einerseits unterbrochen, »[…] to literally fill the mouth with an alternative matter […]« (ebd. S. 124), anderseits wird sie durch das Gelächter verstärkt, gewissermaßen unterstrichen. In Chote Singhs Fall funktioniert das Gelächter als ein radikales Bekenntnis, das seine wörtliche Aussage ins Gegenteil manövriert: plötzlich versinken die Worte im Ungewissen. Indem er sich als Subjekt behauptet und die ihn umgebende Struktur verneint, wird nicht nur das anonymisierende Verfahren der Stimmaufzeichnung in Frage gestellt, es werden auch die ‚wissenschaftlich‘ gesetzten Sprachspiele durchbrochen, die auf einem Nicht-Hören basieren. Das unüberhörbare Lachen erweist sich als ein erfolgreicher Widerstand gegen die Entmenschlichung, als Rebellion und Wunsch, dem repressiven System zu entkommen. »An escape by which we may also find another form of community« (LaBelle 2014: S. 124).

Abgesehen von den geografischen, sprachlichen, ethnischen und religiösen Zuordnungen waren die einzelnen Individuen für die im ›Halbmondlager‹ gemachten Sprachaufnahmen völlig bedeutungslos (Lange 2010b: S. 7). Dadurch dass der Vize-Botschafter von Indien, Amit Dasgupta, den Namen Mall Singhs bei der Einweihung des Wünsdorfer Kriegsgräberfriedhofs nennt, bringt er ihn jedoch als Individuum zum Vorschein. Zusätzlich zur Namensnennung rezitiert der Vize-Botschafter die Sprachaufnahme Mall Singhs: »Es war einmal ein Mann …« (THF: 01:14:46-01:15:31) und holt dessen Stimme aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Der Vize-Botschafter bereit Mall Singh auf diese Weise von seinem subalternen Status, von seiner archivalischen Verobjektivierung und würdigt ihn als einen Sprecher einer alternativen Geschichtsschreibung.


Auszug aus Stimmenvielfalt: Filme von Philip Scheffner, Sarah Vanagt und Trinh T. Minh-ha. In: Koch Angela (Hg.): Schwirrende Stimmen, spukende Geschichten. Der Film THE HALFMOON FILES. A GHOST STORY von Philip Scheffner. Wien: Sonderzahl, S. 113-119.

Wien, 2016; ISBN 978-3-85449-4